Die nicht mehr zu unterdrückende Gesellschaftskritik in der DDR hatte 1989 auch den Deutschen Schachverband der DDR erfasst. Die Unzufriedenheit der Schachbasis mit dem praktischen Ausschluss aus dem internationalen Schachgeschehen und der Systemkonformität des Büros des Präsidium des Deutschen Schachverbandes der DDR, das der Diskriminierung des Schachsports wie auch anderer nichtolympischer Sportarten durch den DTSB nur zusah und nicht selbst aktiv opponieren wollte oder konnte, war derart angewachsen, dass das Büro des Präsidium des DSV der DDR mit Präsident Werner Barthel und Generalsekretär Ernst Bönsch im Dezember 1989 zurücktreten musste.
Im Mai 1990 wählte der letzte Verbandstag des DSV dann einen völlig neuen Führungsstab mit Dr. Michael Schmidt aus Dresden als Präsidenten, in dem aus Sachsen u.a. Robert Beltz aus Leipzig und Manfred Kalmutzki aus Dresden mitwirkten.
Da die Volkskammer der DDR bereits Anfang 1990 die Weichen für die Wiedereinführung der Länderstruktur und einen baldigen Anschluss an die Bundesrepublik gestellt hatte, standen den Schachspielern große Veränderungen bevor. Die Delegiertenkonferenz des Bezirksfachausschusses Schach Dresden im März 1990 entschied sich deshalb dafür, den Bezirksfachausschuss nur als Arbeitsausschuss fortzuführen, der die Aufgabe erhielt, die Vorarbeiten für die Gründung eines sächsischen Schach-Landesverbandes in Angriff zu nehmen.
Ich wurde zum Leiter dieses Arbeitsausschusses bestimmt. Zusammen mit Vertretern der Bezirksfachausschüsse Chemnitz und Leipzig habe ich den Gründungskongress des neuen sächsischen Schachverbandes vorbereitet. Als Erstes war eine Satzung erforderlich. Erfahrungen über Satzungen hatten wir keine. Ich holte mir deshalb zunächst Material vom Präsidenten des Schachverbandes Württemberg und habe dann in enger Zusammenarbeit mit Robert Beltz den ersten Entwurf der Satzung eines sächsischen Schachverbandes erarbeitet. Am 15. September 1990 gründeten die Delegierten aus den drei sächsischen Bezirken in Dresden den Schachverband Sachsen und bestätigten den vorliegenden Satzungsvorschlag.
Dass das höchste Zeit war, belegt die Tatsache, dass nur 14 Tage später, am 29. September 1990, der Vereinigungskongress des Deutschen Schachbundes in Leipzig stattfand, auf dem die neuen Landesverbände aus dem Bereich der DDR in den Deutschen Schachbund aufgenommen werden sollten und auch wurden. Am 15. Dezember 1990 wurde dann in Lindow/Mark die Auflösung des Deutschen Schachverbandes der dann schon nicht mehr bestehenden DDR von seinem Präsidium und den Abgeordneten der neuen Landesverbände beschlossen.
Wenn man bedenkt, dass sich die an dieser Entwicklung beteiligten Schachfreunde besonders im Jahr 1990 intensiv um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes oder gar die Gestaltung eines neuen Berufsfeldes bemühen mussten, kann man vor ihnen allen nur den Hut ziehen. Ich wundere mich deshalb heute, wo wir alle damals die Kraft dafür hergenommen haben.
Da die strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft die Folge hatten, dass sich die meisten Sachsen beruflich und oft auch wohnlich verändern mussten, standen uns viele bewährte Schach-Funktionäre aus der DDR-Zeit nicht mehr zur Verfügung. Dadurch wurde auch die Besetzung der Funktionen im neuen Landesverband zum Problem. Von mir in der persönlichen Planung nicht vorgesehen, war ich plötzlich einziger Kandidat für die Funktion des Präsidenten des Schachverbandes Sachsen. Nach reiflicher Überlegung war ich dazu bereit, vor allem deshalb, weil ich wusste, dass mir u. a. mit Thomas Delling aus Hoyerswerda und Robert Beltz als Vizepräsidenten, Günter Pätzold aus Görlitz als Schatzmeister, Manfred Kalmutzki und Werner Schreyer aus Dresden erfahrene Schachfunktionäre zur Seite stehen würden, die sich bereits mit Aktivitäten bei der Schaffung einer neuen Struktur hervorgehoben hatten.
Es wurden schwere Jahre nicht nur für mich als Präsidenten. Beide Vizepräsidenten schieden bald aus. Thomas Delling übernahm für seine Partei, die SPD, wichtige kommunale Aufgaben in Hoyerswerda. Robert Beltz musste sich beruflich mit seiner Firma eine neue Existenz aufbauen. Die gewählten Funktionäre Andreas Hauschild, Günther Jahnel und Dr. Jürgen Kirste und später Wolfgang Schwarzer und Günter Pätzold mussten ebenfalls ausscheiden.
Wir suchten und fanden neue Mitstreiter u.a. mit Helge Kildal als Landesspielleiter, Jörg Weißflog und Frank Spangenberg als Vizepräsidenten, Oswald Bindrich als Referenten für Leistungssport, Dietmar Daniel und etwas später Andreas Neumeyer als Schatzmeister und Martin Burghardt als Redakteur der Rochade Sachsen. Wir fanden mit Hannelore Liebs eine neue Geschäftsführerin mit Übersicht. Die eine oder andere Funktion musste allerdings zeitweise vakant bleiben. Eine besonders wichtige Stütze für den Präsidenten war damals der leider inzwischen verstorbene Helge Kildal aus Leipzig.
Außerdem brachte die neue Satzung eine Anzahl von Strukturproblemen:
- Die ehemaligen Schachsektionen waren juristisch keine Vereine, sondern Sektionen von Betriebssportgemeinschaften. Diese Struktur ließ sich nicht aufrecht erhalten. Viele Betriebe wurden abgewickelt und die wirtschaftliche Situation ermöglichte überlebenden Betrieben meist nicht, Schach zu finanzieren. Die Schachsektionen mussten sich in Vereine umwandeln oder sich vorhandenen Vereinen anschließen. Dabei waren neue Möglichkeiten der Finanzierung zu suchen. Meist war das die Eigenfinanzierung durch Mitgliederbeiträge. Deshalb gab es eine starke Fluktuation. Viele Schachsektionen verschwanden ganz. Andere bildeten sich in eigenfinanzierte Vereine meist mit neuem Namen um.
- Mitglieder des Schachverbandes waren nun nicht mehr die Stadt- und Kreisfachausschüsse, die sich auflösten, sondern die Vereine selbst. Die alte Aufteilung der Spielbezirke wurde beibehalten (Spielbezirke Chemnitz, Dresden und Leipzig). In den großen Städten war es einfach, Stadtligen zu gründen, da ja mehrere Vereine vorhanden waren, die leicht kommunizieren konnten. Außerhalb der größeren Städte gab es größtenteils Kreise mit wenigen Schachvereinen oder auch gar keinem Schachverein. Wenn man aus Spielstärkegründen nicht zentral spielen konnte und aus Kostengründen nicht in den Spielbezirken des SVS spielen wollte, musste man deshalb selbst untergeordnete regionale Wettkampfstrukturen schaffen.
Dass sich unter diesen Bedingungen die Anzahl der Vereine und der Einzelmitglieder verringern würde, war absehbar.
Vor der Wende hatten die drei sächsischen Bezirke insgesamt ca. 14000 Mit-glieder. Im Buch „Schach in Sachsen“ werden für den Bezirk Chemnitz knapp 4950 Mitgliedern und den Bezirk Dresden ca. 4050 Mitgliedern angegeben. Vom Bezirk Leipzig fehlt leider eine Aussage. Nimmt man an, dass Leipzig den anderen Bezirken kaum nachstand, besaßen die drei sächsischen Bezirke vor der Wende 14000 – 15000 Mitglieder. Die Zahlen wurden allerdings in der DDR oft besonders im Nachwuchsbereich nach oben frisiert. Trotzdem sollte es damals mindestens 12000 Mitglieder in den sächsischen Schachvereinen gegeben haben.
In ersten Jahrbuch 1992/1993 des Schachverbandes Sachsen findet sich nach Gründung des SVS eine erste Bestandsaufnahme. Auf der 3. Tagung des Präsidiums des SVS am 2.2.1991 konnte ich die Information geben, dass der Verband insgesamt über 4078 Mitglieder in insgesamt 180 Vereinen verfügt. Zwei Drittel der Mitglieder waren uns also verloren gegangen.
Hauptursachen waren: Veränderungen der beruflichen Tätigkeit der Einzelmitglieder oft verbunden mit Ortswechsel, Weggang vor allem vieler junger Mitglieder in die alten Bundesländer, Wegfall und Umstrukturierung der Schachsektionen. Schachspieler wurden arbeitslos bzw. hatten bei ihrer Sorge um die Arbeit weder Zeit noch Lust, im Schach aktiv zu bleiben.
An den Zahlen von 1991 hat sich leider bis heute nicht sehr viel geändert. Zählt man im Jahrbuch 2014/2015 zusammen, kommt man nur noch auf 132 Vereine. Gegenwärtige Zahlen von Einzelmitgliedern sind mir nicht bekannt. Mehr als 5000 haben wir aber sicher nicht. Ursachen dafür gibt es genug. Aber das ist jetzt nicht mein Thema.
Zunächst hatten die leitenden Funktionäre nach der Gründung des Schachverbandes Sachsen drei nicht unkomplizierte Aufgaben vor sich:
Erstens galt es, den gesamten Spielverkehr neu zu organisieren.
Zweitens brauchten wir für das Arbeiten des Landesverbandes neue Richtlinien, damit das Schachgeschehen korrekt laufen konnte: eine Rechtsordnung, eine Wettkampf- und Turnierordnung, eine Finanzordnung, eine Beitragsordnung, eine Jugendordnung, eine Wahlordnung und einige weitere Ordnungen und Richtlinien.
Drittens war es erforderlich, den Kontakt mit den übergeordneten Rechtsträ-gern, vor allem mit dem Präsidium des Deutschen Schachbundes und mit dem Landessportbund Sachsen, zu entwickeln und zu pflegen.
Dass die Erneuerung des Spielverkehrs gut gelang und dass schnell nicht nur sächsische Einzelmeisterschaften gut organisiert werden konnten, sondern sogar bereits in den 90er Jahren eine Anzahl von Deutschen Meisterschaften in Sachsen stattfand, war nicht nur ein Verdienst von zentralen Funktionären wie Helge Kildal, sondern auch ein Verdienst der Funktionäre in den zum Teil erst neu entstandenen Vereinen. Dass es uns damals gelang, die Rochade Europa als Verkündigungsorgan für den Schachverband Sachsen zu gewinnen, dass Sachsen im Nachwuchsbereich schnell deutsche Meistertitel holte und Schach als Förderungssportart in das Sportgymnasium Dresden aufgenommen wurde, zeugt davon, dass uns der Übergang in eine neue Gesellschaftsordnung trotz einigem Stottern ganz gut gelungen war.
Ich konnte damals sehr schnell gute Kontakte besonders mit dem damaligen Präsidenten des Deutschen Schachbundes Egon Ditt und seinem Generalsekretär Horst Metzing herstellen, die stets bemüht waren, die neuen Landesverbände des Deutschen Schachbundes erfolgreich zu integrieren. In den zentralen Gremien des Deutschen Schachbundes wurde die genannten ersten Erfolge im Schachverband Sachsen mit Anerkennung aufgenommen. Dass wir dabei u. a. in Bereichen wie Frauenschach und Wertungssystem, in denen der Deutsche Schachbund beträchtlichen Aufholbedarf hatte, aus der guten Arbeit durch die Schachfunktionäre der DDR-Zeit wie z.B. den unlängst verstorbenen Werner Schreyer zehren konnten, war für mich als Präsident des SVS sehr angenehm.
Natürlich hatte die Führung des Landesverbandes in meinen 8 Jahren als Präsident noch viele andere Aufgaben zu lösen, über die man Stunden reden könnte. Einige davon wurden erfolgreich gelöst, andere konnten nicht so erfolgreich oder auch gar nicht gelöst werden. So wird es wohl immer ein Problem der Schachverbände sein, überhaupt Funktionäre und dann noch gute Funktionäre zu finden. Schließlich geben die Vereine diese auch nicht gern ab.
Oft war ich als Präsident nicht zufrieden, auch mit mir selbst. So ist es uns nach dem Ausscheiden von Andre Martin als Referent für Öffentlichkeitsarbeit nie gelungen, für ihn einen Nachfolger zu finden, der zu solcher Initiative wie Andre kurz nach der Wende fähig war. Unglücklich war ich auch darüber, dass wir es nie richtig angepackt haben, Sponsorensuche zu organisieren.
Trotzdem kann man es wohl als Erfolg werten, wie wir in meinen Jahren als Präsident den Verband erfolgreich zum Laufen und die Mitglieder erfolgreich zum Spielen gebracht haben.
Als ich mich 1998 aus Altersgründen nicht mehr zur Wahl stellte, konnte ich den Landesverband mit ganz gutem Gewissen in die allerdings nur wenig jüngeren Hände von Siegfried Müller übergeben.