"Was Schach und MINT miteinander verbindet"

Die Emanuel-Lasker-Gesellschaft e.V. (ELG) lud am 09. November 2019 zur 2. Deutschen MINT-Schachmeisterschaft in die geschichtsträchtige Stadt Leipzig ein. 52 Schachfreunde, darunter 7 Frauen, die einen MINT-Beruf oder MINT-Ausbildung (MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) haben, kamen zum Schnellschachturnier in das Foyer des Augusteums der Universität Leipzig. Aus sächsischen Vereinen fanden sich 22 Spieler ein.

Es wäre interessant zu wissen, wie viele der Teilnehmer an der Universität Leipzig studierten, lehren oder lehrten. Nach meinem Kenntnisstand hatten mindestens eine Handvoll Schachspieler solche Verbindungen zur Universität Leipzig, also mindestens 10 % der Teilnehmer. Besonders schön ist, dass auch vereinslose Schachfreunde sich dem Kampf stellten. Die Ausrichter der ELG waren von der allgemeinen Resonanz begeistert.

Die These vom Vorabend, dass Schachspieler tolerant sind, konnte Turnierleiter und Schiedsrichter Bernhard Riess bestätigten. Es gab keinen Streitfall.

2019 MINT Sieger MDie 9. und letzte Runde versprach noch einmal besondere Spannung. Sebastian Pallas und Prof. Andreas Modler, die keine Partie verloren hatten, führten das Feld punktgleich mit 6 ½ Punkten an. Rüdiger Schüttig, der Vorjahresdritte, stand mit 6 Punkte in Lauerposition, gefolgt von weiteren 6 Spielern mit 5 ½ Punkten. Professor Friedbert Prüfer nutzte die Gunst der Stunde und schob sich am Ende an Rüdiger Schüttig vorbei auf den 3. Platz, Endstand.

Sebastian Pallas und Prof. Andreas Modler remisierten ihre Partien, so dass am Ende die bessere Wertung entscheiden musste. Sebastian Pallas erhielt als neuer Deutscher MINT-Meister den Viktor 2019, in Erinnerung an den herausragenden weltbekannten Schachspieler Viktor Kortschnoi. Herzlichen Glückwunsch.

2019 MINT Sieger FDie besten Frauen und die besten Nachwuchsspieler wurden ebenfalls ausgezeichnet. Zwischen den Partien kamen die Teilnehmer ins Gespräch, frischten Erinnerungen auf, knüpften neue Kontakte. Die ELG legte über 50 Poster „2. Deutsche MINT-Schachmeisterschaft“ aus, auf der sich alle Teilnehmer, Organisatoren und Förderer unterschrieben. Als Erinnerung durften die Teilnehmer so ein Poster und ein großes Schachbuchpaket mitnehmen.

Die 3. Deutsche MINT-Schachmeisterschaft findet am 19. September 2020 in Potsdam statt.

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Weil die ELG enge Verbindungen zwischen MINT und Schach sieht, die mit der MINT-Schachmeisterschaft sichtbar gemacht werden sollen, möchte ich noch einmal abschweifen und die Frage aufwerfen:

Was verbindet MINT und Schach?

Klar, man denkt zunächst an Dr. Emanuel Lasker, der Schachweltmeister und Mathematiker war. Das Spitzenschach und Spitzenforschung sich nicht ausschließen, zeigen weitere Persönlichkeiten:

  • Dr. Max Euwe – Schachweltmeister und Mathematiker, 1954, Professor für Kybernetik, 1954 Professor für Informatik
  • Milan Vidmar - Schachgroßmeister und Professor für Transformatorentechnik
  • Robert Robinson – Fernschachspieler und Professor für Chemie, Nobelpreisträger, 1950 Präsident des Britischen Schachverbandes
  • Irving John Good – Schachspieler und Mathematiker und Kryptologe

Im Zweiten Weltkrieg waren britische Schachspieler maßgeblich an der Enigma-Entschlüsselung beteiligt, was viele Zerstörungen verhinderte und unzählige Menschenleben rettete. Schon damals wusste man um die besondere Denkweise der Schachspieler, die erst mit heutiger Technik nachgewiesen werden konnte. Schachspieler denken in Bildern, vergleichen Stellungen, versuchen bekannte Muster wiederzuerkennen. 2018 veröffentlichte der Spiegel einen spannenden Bericht von André Schulz, Chefredakteur bei Chessbase „Wie britische Schachspieler halfen, den Krieg zu gewinnen“. (Link zu https://www.spiegel.de/geschichte/enigma-entschluesselung-wie-schachspieler-halfen-den-krieg-zu-gewinnen-a-1239487.html).

In der Weizenkornlegende zur Entstehung des Schachspiels ist eine gigantische Schachaufgabe sehr anschaulich verpackt. Die Komplexität des Schachspiels ist der Grund, weshalb Literaten und Naturwissenschaftler Schach als Projektionsfläche für Ihre Erkenntnisse über das Leben und die Welt verwenden.

Der britische Biologe Thomas Henry Huxley, der vor mehr als 100 Jahren lebte, war immer bemüht, den Menschen die Welt einfach und anschaulich zu erklären: „Das Schachbrett ist die Welt, die Figuren sind die Erscheinungen im Universum, die Spielregeln sind, was wir die Naturgesetze nennen. Der Spieler auf der anderen Seite ist uns verborgen. Wir wissen, dass sein Spiel stets fair, gerecht und geduldig ist. Aber wir wissen auch, zu unserem Schaden, dass er niemals einen Fehler übersieht oder die geringste Rücksicht auf Unwissen nimmt.“

Der brillante Physiker Richard Feynman, der 1965 den Nobelpreis für die Arbeiten zur Quantenelektrodynamik bekam, verglich Schach und Wissenschaft. Er ist der Meinung, dass mit zunehmendem Erkenntnisgewinn das Schachspiel komplizierter wird, während es in der Physik einfacher wird. (s. „Feynman: Using chess to explain science“ Link: https://en.chessbase.com/post/feynman-using-chess-to-explain-science). Der Artikel “Schach und Physik im Klassenzimmer” (Link zu https://en.chessbase.com/post/chess-and-physics-in-the-classroom) bietet weitere interessante Analogien zwischen Schach und Physik bzw. Schach und Mathematik. Am Ende könnte man zu dem Schluss kommen: Wissenschaft ist ganz einfach.

Neben Richard Feynman gibt es noch viele andere Nobelpreisträger, die leidenschaftlich Schach spielten bzw. spielen. Die Website von Bill Wall hält ausführliche Informationen bereit (Link zu: http://billwall.phpwebhosting.com/articles/nobel_prize_chess.htm).

Das Damenproblem als Herausforderung für die Wissenschaft

Schon viele Schachspieler und Wissenschaftler beschäftigten sich mit dem Damenproblem, also wie viele Möglichkeiten es gibt, 8 Damen so auf dem Schachbrett aufzustellen, dass sie sich nicht schlagen können. Max Bezzel, ein bayrischer Schachspieler, fragte 1848 er in einer Zeitschrift nach der Anzahl der möglichen Lösungen. Die korrekte Antwort lautet 92 Möglichkeiten.

Nun sind Wissenschaftler bestrebt, das Problem zu verallgemeinern und eine grundsätzliche Lösung zu finden. So gelangt man von dem 8-Damenproblem zum n-Damenproblem. Trotz der in den letzten Jahren drastisch gestiegenen Rechenleistungen der Computer stellt das n-Damenproblem mit zusätzlichen Randbedingungen die Experten vor scheinbar unüberwindbare Probleme.

2017 wurden in den Zeitungen rund um den Globus Artikel über die Auslobung von 1 Million Dollar berichtet. In der Welt vom 11.09.2017 (Link zu https://www.welt.de/kmpkt/article168402274/Eine-Million-Dollar-fuer-denjenigen-der-dieses-Schachraetsel-loesen-kann.html) formulierte Prof. Ian Gent die Aufgabe: „Wenn einige Damen bereits auf einem n-zu-n-Schachbrett gesetzt sind, kannst du das n-Damenproblem lösen, ohne die gesetzten Damen zu bewegen?“ Weiter wird berichtet, dass Prof. Gent dann doch vor dieser großen komplexen Aufgabe kapitulierte, weil er nicht mehr daran glaubt, dass eine effiziente Software zur Lösung dieses Problems entwickelt werden kann. Die Forschungsergebnisse von Prof. Gent und seinen Kollegen wurden 2017 im Journal of Artificial Intelligence (Link zu https://jair.org/index.php/jair/article/download/11079/26262/) veröffentlicht. Die Dimension der von Prof. Gent formulierten Aufgabe kann man noch besser erahnen, wenn man sich die 1994 von Igor Rivin und Kollegen veröffentlichte Arbeit zum n-mal-n Damenproblem (Link zu: https://www.researchgate.net/publication/240320772_The_n-Queens_Problem) zu Gemüte führt.

Die Hochachtung gegenüber diesem Forschungsergebnis steigt weiter an, wenn man sich vergegenwärtigt, auf welchen Leistungsstand die damalige Rechentechnik und Softwareentwicklung waren. 2004 veröffentlichten japanische Forscher ihre Ergebnisse (Link zu http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.109.4098&rep=rep1&type=pdf) zur effizienten Lösung des allgemeinen n-mal-n Damenproblems. Nach 281 Tagen wurden für 23 Damen auf einem 23 mal 23 großen Schachbrett mehr als 24,233 Billionen Lösungen gefunden. Wer sich intensiver mit dem Damenproblem beschäftigen möchte, dem sei die in 2009 bei Discrete Mathematics veröffentlichte Übersichtsarbeit „A survey of known results and research areas for n-queens“ (Link zu https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0012365X07010394) empfohlen.

2019 traten Physiker der Universität Innsbruck (Link zu https://www.uibk.ac.at/newsroom/knobeln-auf-dem-quanten-schachbrett.html.de) an die Öffentlichkeit, die das Problem mit einem Quantencomputer lösen wollen. Ihr eigentliches Ziel ist die Überlegenheit der Quantencomputer zu demonstrieren. Das n-mal-n Damenproblem wird bei Forschern zur Künstlichen Intelligenz nach wie vor als Benchmark gesehen.

Zur Entwicklung und zum Verständnis der Künstlichen Intelligenz müssen die Forscher interdisziplinär zusammenarbeiten, was in erster Linie die MINT-Bereiche betrifft. Klares und gleichzeitig unkonventionelles Denken, Hartnäckigkeit, Ausdauer, gründliche Analyse, Muster erkennen, verschiedene Lösungsstrategien entwickeln und bewerten sind wünschenswerte Eigenschaften für erfolgreichen Wissenschaftsnachwuchs.

2019 veröffentlichte die Zeitschrift „Problems of Education in the 21st Century“ die sehr bemerkenswerte Studie „Synergetic effects manifestation by founding complexes deployment of mathematical tasks on the chessboard“ (Link zu http://www.scientiasocialis.lt/pec/node/1187). Sie bestätigt die Enthusiasten der Emanuel Lasker Gesellschaft (https://lasker-gesellschaft.de/), der Deutschen Schulschachstiftung (https://schulschachstiftung.de/), die Schachstiftung (https://schachstiftung-gk.de/) und deren Förderer in ihrer Auffassung und ihrem Tun, dass die Kinder mit Schach gleichzeitig für das Leben lernen und auf das Leben vorbereitet werden.